Vertraue und durchschaue! Mit Luhmann gegen den Oldwork-Kater (Teil 2)

Folge 2 der vierteiligen Serie: Dieses Mal geht es um den Mut, den Vertrauen voraussetzt. Um die Unvermeidbarkeit von Risiken. Und um die moderne Erscheinungsform Systemvertrauen und dessen Zukunft: Das durchschauende Vertrauen, essenziell für alle auf Selbstverwaltung und Partizipation zielenden Organisationen.

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Im letzten Teil hatten wir festgestellt, dass Niklas Luhmann und seine Überlegungen zu Vertrauen ein probates Mittel sein können, um den Oldwork-Kater zu verscheuchen, der sich manchmal einstellt, wenn die schönen neuen Ideen von einer gleichberechtigten, menschlicheren und gerade deshalb produktiveren und innovativeren Arbeitswelt von grimmigen Skeptikern zertrampelt werden wie junger Salat. Luhmann, so erfuhren wir, hält nämlich Vertrauen – und damit einen ‚weichen‘ Faktor – für die entscheidende Zutat einer modernen Welt, die darauf angewiesen ist, in Zukunft immer mehr Komplexität zu bewältigen. Es geht nur mit Vertrauen, sagt Luhmann, und tendenziell brauchen wir immer mehr davon.

In dieser Folge gehen wir nun ans Eingemachte und schauen uns noch einmal genauer an, was die ‚riskante Vorleistung‘ Vertrauen eigentlich bedeutet. Vertrauen hat es nämlich in sich. Vom Grundsatz her ist es riskanter als ein hochkompliziertes Finanzprodukt, das man erwirbt, in der Hoffnung damit Gewinn zu machen. Denn selbiges ist, wenn es sich nicht um Betrug handelt, immerhin auf einer mathematischen Grundlage erdacht worden und kann zumindest von seinem Erfinder und einigen wenigen Auserwählten verstanden und richtig eingesetzt werden. Ja es ist sehr kompliziert, aber es ist eben nur kompliziert. Vertrauen kommt aber dort zum Einsatz, wo Kompliziertheit aufhört und Komplexität anfängt. Denn gerade dann, wenn man keine Möglichkeit hat, sicherzugehen, was passieren wird und wie andere sich verhalten werden, ist man auf Vertrauen verwiesen. Und das sieht dann so aus:

Vertrauen ist letztlich immer unbegründbar; es kommt durch Überziehen der vorhandenen Informationen zustande; es ist […] eine Mischung aus Wissen und Nichtwissen. Obwohl der Vertrauende um Gründe nicht verlegen sein wird und anzugeben vermag, weshalb er in diesem oder jenem Falle Vertrauen schenkt, dienen diese Gründe mehr seiner Selbstachtung und seiner sozialen Rechtfertigung. […] Sie tragen allenfalls die Placierung des Vertrauens, nicht aber das Vertrauen selbst. Vertrauen bleibt ein Wagnis. (S. 31)

Ist Vertrauen wirklich unbegründbar? Die vielen Gründe, die wir anführen können, wenn wir jemandem vertrauen, mögen auf den ersten Blick zwar überzeugend wirken, aber sie sind es nicht in letzter Sicht. Auf Grund der Handlungsfreiheit unserer Mitmenschen, denen wir Vertrauen schenken, kann niemals garantiert werden, dass sie sich so verhalten, wie von uns erwartet. Ein besonders drastisches Beispiel dafür ist der Flugzeugabsturz in den französischen Alpen, der sich in diesen Tagen jährt. Eine dreistellige Zahl von Menschen vertraute einer renommierten Fluglinie und ihrem Personal, sie, wie zuvor unzählige andere Passagiere, sicher ans Ziel zu bringen. Es kam anders. Dabei gibt es auch im Nachhinein noch viele plausible Gründe und eigentlich kaum einen nennenswerten Gegengrund, warum es für die Passagiere und die am Absturz unbeteiligten Besatzungsmitglieder sehr rational und überhaupt nicht leichtsinnig war, das Flugzeug zu besteigen. Aber ein derart unwahrscheinliches und erschreckendes Beispiel des Missbrauchs von Vertrauen verdeutlicht uns, dass Luhmann nicht Unrecht hat, wenn er sagt: „Vertrauen bezieht sich also stets auf eine kritische Alternative, in der der Schaden beim Vertrauensbruch größer sein kann als der Vorteil, der aus dem Vertrauenserweis gezogen wird.“ (S. 28f)

Und zwar weitaus größer. Vertrauen ist in der Tat ein Wagnis. Längst nicht immer ein unüberschaubares und furchteinflößendes. Aber es kann sich eben als ein solches erweisen. Das Vertrauen in einen Partner, in einen Arzt, in ein Bungeeseil, das sind allesamt Wagnisse, die auch schlecht ausgehen können. Und wenn man sich das vor Augen führt, fällt es leichter zu verstehen, warum manche Menschen vor nichts mehr Angst zu haben scheinen, als anderen Vertrauen zu schenken. Auch und gerade in geschäftlicher Hinsicht: Was, wenn der Angestellte Eigentum und Geld der Firmeninhaberin schlecht behandelt und verschwendet? Was, wenn die Geschäftspartnerin eine entscheidende Absprache nicht einhält? Vertrauen kann Angst machen. In fast jeder Situation. Vertrauen ist eben immer auch eine Frage des Mutes.

Aus der Zwischenablage

Dass man trotzdem nicht gänzlich ohne Vertrauen auskommen kann, hatten wir schon im letzten Teil geklärt. Aber warum nicht so weit wie möglich auf dieses Risiko verzichten? Es gibt Menschen, die das tun. Es gibt ganze Gesellschaften, die das tun. Aber Luhmanns Antwort lautet: Wer so handelt, bringt es nicht weit. No risk, no fun. Sozusagen. Aber nicht nur der Spaß bleibt aus, wenn wir auf Vertrauen im größeren Maßstab verzichten. Wir verpassen noch weit mehr: Persönliche, geschäftliche, gesellschaftliche Chancen auf Weiterentwicklung, Profit, Wohlstand, Fortschritt, ja auf Zufriedenheit und Glück. Denn was bleibt, wenn wir nicht, oder besser: nur ganz wenigen vertrauen? Friede Freude Eierkuchen?

Nun: Übrig bleibt eine kleine, überschaubare Welt der einfachen Regeln und der nur scheinbaren Sicherheit. Vertrautheit nennt Luhmann eine solche Welt, in der die Menschen sich verhalten, als sei alles in ihrem Leben durch Traditionen, Naturgesetze, mächtige Autoritäten, Götter geregelt und entschieden. Für jedes Fehlverhalten gibt es eine klare Sanktion und für jedes Unglück eine Erklärung. Vertrautheit ist eine Haltung, die man in sozialen Systemen findet, in denen sich wenig ändert. Oder gar nichts. Sie passt gut in eine vorindustrielle, nichttechnisierte Welt mit hochgradig erschwerter Mobilität und extrem langsamer Kommunikation. Da versteht man, warum es heutzutage Leute gibt, die ihr Handy wegwerfen, ihren Facebook-Account löschen und in die Einöde ziehen. Wahrscheinlich sehnen sie sich nach Vertrautheit, nach Kontakt mit einem überschaubaren Kreis persönlich bekannter Menschen. Und wahrscheinlich geht ihnen Komplexität tierisch auf die Nerven.

Nur, gibt Luhmann zu bedenken: „Komplexität ist ein nichthintergehbares Risiko.“ (S. 38) Denn wer kann denen, die in einer Welt der unterkomplexen Vertrautheit leben oder zumindest versuchen zu leben, garantieren, dass ihnen nicht morgen der Himmel auf den Kopf fällt? Gewalt, Krankheit, Naturkatastrophen, Kriege bedrohen jeden. Nicht nur Menschen, die anderen Menschen vertrauen. Diese haben sogar einen Vorteil: Sie können „…jene Komplexität, die durch die Freiheit des anderen Menschen in die Welt kommt“ (S. 38) durch Vertrauen reduzieren. Sie müssen sich viel weniger Sorgen machen darüber, was andere Ihnen Böses tun könnten und profitieren höchstwahrscheinlich auch ganz praktisch davon.

Aus der Zwischenablage

In Michael Moores preisgekröntem Dokumentarfilm ‚Bowling for Columbine‘ wird dieser Zusammenhang plastisch belegt. Moore verbringt darin viel Zeit mit ‚ganz normalen‘ angehörigen der weißen US- amerikanischen Mittelschicht, die im vorstädtischen Amerika die Vertrautheit einer überschaubaren und homogenen Welt suchen. Weil sie aber spüren, dass sie „jene Komplexität, die durch die Freiheit des anderen Menschen in die Welt kommt“ nicht gänzlich ausschalten können – und das ist in Amerika bekanntlich immer eine Komplexität, die den Besitz und Gebrauch von Schusswaffen mit einschließt – sichern sie ihre Häuser akribisch gegen Einbrecher und bewaffnen sich. Ganz anders die Einwohner der kanadischen Großstadt Toronto, die Moore im Anschluss besucht: Sie schließen ihre Haustüren niemals ab, selbst wenn sie schon Besuch von Einbrechern hatten. Die Zahl der Todesfälle durch Schusswaffengebrauch: Unendlich viel geringer als in den USA, und zwar sowohl in der Stadt als auch auf dem Land. Hier entsteht also Sicherheit nicht durch Schutzmaßnahmen und Kontrolle, sondern gerade durch ein risikobewusstes Vertrauen.

Heißt das aber, dass die Alternative zur angsterfüllten Komplexitätsverleugnung die Auslieferung an ein bedingungsloses Vertrauen ist, das jedes noch so große Risiko in Kauf nehmen muss? Wem könnte man dann allen Ernstes zu Vertrauen raten? Das klingt weder nach einem Glücks-, noch nach einem Fortschritts- und schon gar nicht nach einem Profitversprechen. Aber so einfach ist es ja auch nicht. Natürlich müssen, so Luhmann „die Hochbauten des Vertrauens […] auf der Erde stehen.“ (S. 73) Mit anderen Worten: Vertrauen muss eingebettet sein in ein ganzes System von Absprachen, Erwartungen, Konventionen, rechtlicher Regelungen, die es zu einem Wagnis machen, das nur im Ausnahmefall schlecht ausgeht. Aus personalem Vertrauen (also Vertrauen von Mensch zu Mensch) muss dafür Systemvertrauen werden. Das ist ein Vertrauen in Prozesse und Verfahren, in Absprachen und Regelungen, in Recht und Gesetz, in Institutionen und Staat. Der Einzelne vertraut dabei eigentlich nicht einer konkreten Person, sondern im Normalfall zuverlässig aufeinander folgenden Handlungen unterschiedlichster Menschen, die er gar nicht persönlich kennt.

Aus der Zwischenablage

Das klingt erst einmal anonym und gefährlich, ist es aber nicht. Wenn viele sich kollektiv an Absprachen halten, ist das insgesamt verlässlicher, als auf Einzelne zu vertrauen. Das Kollektiv schafft sich Institutionen und Autoritäten, die Vertrauensverletzungen faktisch und moralisch sanktionieren – und so auch Gründe, zu vertrauen. Das kann sich jeder vorstellen: In einem anarchischen Staat betrügt es sich leichter und leichtherziger, als in einem durchregulierten und strikt kontrollierten System. Den Chef wird man eher hintergehen, wenn er willkürlich entscheidet und mal den einen bevorteilt, den nächsten benachteiligt, als wenn Mitarbeiter nach klaren und transparenten Regeln Lob und Boni erhalten. Auch wird man sich kaum trauen, für eigene Ansprüche einzutreten, etwa auf regelmäßige Pausen, Urlaub und die Abrechnung von Überstunden, wenn es hierfür keine institutionalisierten Regelungen gibt, sondern nur Einzelfallentscheidungen von ‚Vertrauenspersonen‘ – denn dann muss der Beschwerdeführer vielleicht damit rechnen, für immer vor die Tür gesetzt zu werden, statt bloß Urlaub zu erhalten. Systemvertrauen, Vertrauen im großen Maßstab ist zwar anonym, macht aber die Dinge erst einmal verlässlich, berechenbar. Willkür und böse Überraschungen werden zur Ausnahme. Man vertraut, man benimmt sich.

Wenn Vertrauen System bekommt, ist es im Allgemeinen so stabil, dass jetzt auch vereinzelte Enttäuschungen und sogar Missbrauch von Vertrauen verwunden werden können: Stürzt einer von Millionen Flügen ab, ist das eben nicht das Ende der Luftfahrt, weil staatliche Behörden, interne Kontrollen der Fluglinien und eine kritische Öffentlichkeit dafür einstehen, dass der Unfall eine Ausnahme von der Regel ‚Fliegen ist sicher‘ bleibt. Greift ein Mitarbeiter in die Kasse oder veruntreut ein Vorstand Millionen bedeutet das auch nicht die Entlassung ganzer Supermarktbelegschaften oder die Leerung von Vorstandsetagen. Das Vertrauen kann grundsätzlich durch Kontrolle und Sanktion weit gehend bewahrt werden. Und noch einen Vorteil bringt diese recht fortschrittliche Variante des Vertrauens mit sich: Der fragile Charakter von Vertrauen kann jetzt zumindest von einigen durchschaut werden: Es entsteht ein, so nennt es Luhmann, durchschauendes Vertrauen, das „die durch Arbeit an Symbolen konstituierte Welt des sozialen Kontakts als hergestellten Schein“ (S. 87) betrachten kann.

Aus der ZwischenablageWas soll das bedeuten? Dass die einem Vertrauensverhältnis zwischen partnerschaftlich zusammenarbeitenden Unternehmen oder zweier politischer Parteien oder zwischen Staat und Bürger allgemein zugeschriebene Solidität und Verlässlichkeit letzten Endes von der Einhaltung von Absprachen und Erfüllung von Erwartungen abhängig ist, die niemand wirksam kontrollieren kann. Insofern sind sie ‚Schein‘, aber einer, „der für die Fortsetzung der Kontakte eine tragfähige Grundlage abgibt, sofern jedermann die Spielregeln beachtet und an der Erhaltung der Darstellung vertrauensvoll mitwirkt.“ (S. 87) Nur weiß das durchschauende Vertrauen:

…das, was wir Schein nannten, ist Realität, wenn es als Prämisse weiteren Erlebens und Verhaltens verwendet wird. Es ist eine zweite Wirklichkeit. Die Wirklichkeit symbolisch dargestellter Identitäten, die Wirklichkeit der sozialen Komplexitätsreduktion ist sicher in besonderer Weise störempfindlich. Aber letztlich ist jede Wirklichkeit zerstörbar. Das allein ist noch kein Grund, das Zerstörbare als Schein und das Zerstörende als Sein einzustufen. (S. 88)

Was kompliziert klingt, ist also recht simpel: Vertrauen beruht zumeist auf noch mehr Vertrauen. Die Stabilität einer Bank ist nicht durch Eigenkapital gesichert, sondern das Vertrauen darauf, dass nicht alle Kunden gleichzeitig zum Automaten laufen. Der Staat ist vertrauenswürdig als Herr über Recht und Ordnung, weil er punktuell gegen Rechtsverstöße vorgehen kann. Darüber hinaus aber ist er angewiesen auf unser aller Vertrauen, dass nicht alle gleichzeitig gegen seine Regeln rebellieren werden, dann wäre er machtlos. Wer durchschauend vertraut, weiß das und kann trotzdem noch schlafen. Und dieses durchschauende Vertrauen ist nun eine Fähigkeit, auf die alle angewiesen sind, die eine Organisation nicht von der Pyramidenspitze aus leiten wollen, sondern ihren Angehörigen weit gehende Mitwirkungs- und -entscheidungsrechte einräumen wollen.

Denn wo durchschauendes Vertrauen bei den Vielen fehlt, droht bei groben Fehlschlägen der sofortige Zusammenbruch: ‚Wie? Die letzte Millioneninvestition war zwar rational, aber doch nicht ohne Risiko, und nun ist das Projekt gescheitert? Schande über die Verantwortlichen, wir hatten ihnen doch vertraut!‘ ‚Die Umstrukturierung dauert länger als geplant und bringt Probleme mit sich? Das hat uns niemand gesagt – wir dachten der Vorstand hätte alles im Blick!‘ ‚Was? Die Kanzlerin hat gar keinen Plan für den Umgang mit Millionen Flüchtlingen, sondern operiert im Blindflug? Weg mit ihr!‘ Wo aber durchschauendes Vertrauen wächst, da werden aus Schäfchen, die mal brav, mal empört agieren, mitdenkende Erwachsene. Sie gehen nicht gleich von der Stange, wenn es einmal schwierig wird, sie akzeptieren und fordern(!) selbst ihren Teil der Verantwortung ein und vertrauen einander auch im Falle eines Scheiterns noch. Durchschauendes Vertrauen kann also nicht nur mit Enttäuschungen umgehen, die entstehen, weil jemand Vertrauen missbraucht, sondern auch mit solchen, die auftreten, gerade weil einer oder mehrere im Sinne des ihnen entgegen gebrachten Vertrauens gehandelt haben, dabei aber gescheitert sind.Aus der ZwischenablageWer aber ist zu solchem Vertrauen fähig? Luhmann, der konservative Staatsdiener, vermutete 1968:

Durchschauendes Vertrauen […] belastet den Handelnden stärker mit Komplexität und ist daher psychologisch schwieriger. Man wird es daher nur als Spitzenleistung unter besonders gesicherten, laufend sich bewährenden Umständen erwarten können, etwa als Verhaltensmodus einer einheitlich erzogenen, höheren Gesellschaftsschicht, in einer Beamtenbürokratie oder in speziellen Aktionsbereichen wie Politik oder Wirtschaft, deren Einwirkungen auf andere Lebensbereiche relativ gut kontrolliert werden können. (S. 89f)

Es ist sicher nicht zu viel gesagt, dass die Entwicklung der Fähigkeit zu durchschauendem Vertrauen eine Schlüsselfrage dieses Jahrhunderts ist und eine Überlebensfrage für alle selbstverwalteten Organisationen. Können aus Angestellten Kollegen werden, die – trotz Risiken – denjenigen vertrauen, die anderswo Verantwortung tragen und selbst einen gleichgroßen Teil der Verantwortung übernehmen wollen und können? Können aus Untertanen selbsttätige Staatsbürger werden? Denn nur dann können „höhere Gesellschaftsschicht“ und „Beamtenbürokratie“ endgültig in die Vergangenheit verabschiedet und kann das Ruder von ‚denen da unten‘ übernommen werden, die dann nicht länger unten, sondern ‚mittemang‘ dabei sind.

Was also haben wir heute durch den Blick ins Buch gelernt? Erstens: Vertrauen kann außerordentlich große Risiken implizieren und deshalb auch Angst machen. Es ist wenig sinnvoll, sich und andere über diese Tatsache hinwegzutäuschen, denn nur dort, wo Unsicherheiten bestehen, wird Vertrauen wirklich gebraucht, und zwar dringend. Zweitens: Es gibt unter den heutigen Umständen auch keine überzeugende Alternative zum tendenziell riskanten Vertrauen, weil die einfache und überschaubare Welt der Vertrautheit eigentlich nur noch in der Vergangenheit oder in sehr abgelegenen und unterentwickelten Landstrichen existiert. Drittens heißt das aber nicht, dass nun Leichtsinn die Devise ist. In der Moderne begegnet uns Vertrauen vielmehr meist in Form von Systemvertrauen, was bedeutet, das viele vielen anderen vertrauen und durch dieses gegenseitige Vertrauen auf Menschen, die man persönlich nicht kennt und Prozesse, die man nicht überschauen kann – einige Kontrollen und Sanktionen freilich vorausgesetzt – tatsächlich Verlässlichkeit und Stabilität entstehen.

Viertens aber – und hier beginnt die Zukunft des Vertrauens – kann es gar nicht schaden, wenn immer mehr Menschen die prinzipielle Fragilität dieses Systemvertrauens durchschauen und erkennen, dass es hier oft nur um Vertrauen in Vertrauen geht: Staaten könnten zusammenbrechen, Banken pleitegehen, Unternehmen grandios scheitern, wenn die Menschen innerhalb und außerhalb dieser Organisationen aufhören, sich so zu verhalten, wie sie es voneinander erwarten. Je mehr Menschen nun aber verstehen und akzeptieren, dass es sich eben so verhält, die Welt sich aber trotzdem – oder gerade deswegen! – weiterdreht, desto besser sind die Chancen für partizipative Formen der Organisation, für Mitarbeiterbeteiligung und Unternehmensdemokratie. Denn nur, wenn Vertrauen nicht schon beim kleinsten Rückschlag schwindet und entzogen wird, können Erwachsene mit Erwachsenen gemeinsam auf Augenhöhe agieren.

Und das bringt uns wieder zurück zum Anfang dieser Folge: Vertrauen ist auch und immer eine Frage des Mutes – und nicht zuletzt des Mutes zur Verantwortung. Wie man diesen Mut aber findet und auch nicht gleich wieder verliert, das wird uns im dritten Teil dieser Serie (erscheint am 01.04.) beschäftigen.

Auch mal richtig tief ins Buch schauen? Für diesen Artikel gelesen:
Luhmann, Niklas: Vertrauen – Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, 5. Auflage, UVK-Verlagsgesellschaft, Konstanz und München 2014

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