Ein Dialog über zirkuläre Kausalitäten, veraltete Organigramme und Mut, den man nicht kaufen kann. Mit Mark Lambertz.
Durch Zufall habe ich im letzten Moment von einer Lesung im Gewächshaus Düsseldorf erfahren, bei der Gründer, Coach und Berater Mark Lambertz sein Buch “Freiheit & Verantwortung für intelligente Organisationen” vorgestellt hat. Schon weil mir der Buchtitel so gut gefiel, musste ich unbedingt dabei sein. Im Laufe der Lesung haben sich bei mir dann allerdings einige Fragen und Sorgen aufgestaut, die ich gerne an den Autor richten wollte. Zum Glück hat Mark sich gleich zu einem Dialog über die Themen seines Buches hier auf dem Blog bereit gefunden.
Andreas Schiel:
Vielen Dank Mark, dass Du dabei bist!
Den LeserInnen Deines Buches (einer Einführung in das Viable System Model des Kybernetikers Stafford Beer) versprichst Du einen Vorteil im Wettlauf mit der Komplexität. Komplexität und der Umgang mit ihr ist, so scheint es mir, eines der ganz wichtigen Themen wenn es um die Zukunft der Arbeit, von Organisationen und unserer Zivilisation überhaupt geht. In vielen meiner bisherigen Beiträge auf diesem Blog spielt sie jedenfalls eine wichtige Rolle, z.B. in meinen Artikeln über die Bücher von Luhmann und Bernhard von Mutius. Im Zuge meiner Beschäftigung mit dem Thema habe ich auch festgestellt, dass viele, vor allem die guten Organisationsberater, das Thema Komplexität ganz weit oben auf ihrer Liste stehen haben. Nach Deinem Vortrag auf der Lesung, der Lektüre eines Blog-Artikels von Dir und meinen eigenen ersten Leseerfahrungen mit Stafford Beer (Dein Buch habe ich noch nicht gelesen, dazu musst du mich jetzt erst überreden!), frage ich mich allerdings vor allem eines: Ist die Komplexität am Ende vielleicht viel zu komplex, als dass wir, ob als einzelne Akteure oder als Organisationen, wirklich gut und klug mit ihr umgehen können? Oder anders gefragt: Kannst Du ‘mal auf die Schnelle erklären, inwiefern das Viable System Model von Stafford Beer wirklich zu einer Reduktion von Komplexität im guten Sinne beitragen kann? Du weißt schon, so elevator-pitch-mäßig…Denn wenn man erst eine umfangreiche Einführung dazu braucht, wie Du sie geschrieben hast, deutet das nicht daraufhin, dass wir es beim Viable System Model am Ende vielleicht nur mit einer “komplizierten Lösung für ein komplexes Problem” (Niels Pflägling) zu tun haben?

Komplex oder bloß kompliziert? Mark Lambertz‘ Visualisierung des Viable System Model nach Stafford Beer.
Mark Lambertz:
Alles klar, ich schalte erstmal auf den Lambertz’schen Internet-Staubsauger-Verkäufer-Modus, um dann die Frage der komplizierten Lösung für ein komplexes Problem zu beantworten und zuletzt etwas zur Komplexität zu sagen.
Platt formuliert: Das VSM ist eine alternative zum klassischen Organigramm.
Im Detail: Das VSM ist ein Framework um die grundlegenden Bestandteile eines lebensfähigen Systems – also auch Unternehmen – zu verstehen und beschreibt die entsprechenden Funktionen und einhergehenden Informationsflüsse innerhalb und z.T. auch außerhalb der Organisation.
Es geht also nicht um eine triviale “Die 7 goldenen Regeln des Erfolgs”-Liste oder eine “Wirkt sofort”-Garantie, sondern um das Durchdringen der Meta-Muster der Organisation von lebensfähigen Systemen. Das ist in der Tat nicht so eingängig wie die gelernten Matrix-Organisationen und bekannten Top-Down-Diagramme. Das Verständnis von zirkulären Kausalitäten ist durchaus eine Herausforderung, befreit den Geist aber vom mono-kausalen Denken und den ewig gleichen reduktionistischen Sackgassen.
Zuvorderst ist das VSM für mich ein Diagnose-Werkzeug um die organisatorische Probleme zu erkennen und einen “Therapievorschlag” entwickeln zu können. Und klar ist: Es ist eines der größten Fässer innerhalb der Organisationsentwicklung, welches man aufmachen kann, denn die Prinzipien und Axiome des VSMs berühren jeden Teilnehmer des Systems. Dies ist insbesondere für das Management eine große Herausforderung, denn das impliziert auch ein neues Rollenverständnis. Es geht in der Tat um Alles.
Wie funktioniert es und was kann das Modell leisten?
- Komplexität wird bewältigt(barer), indem die Intelligenz der Organisation erschlossen wird.
- Hierarchie & Selbstorganisation werden ins Gleichgewicht gebracht.
- Logische (sinnkoppelnde) Verbindung von Struktur und Prozess.
- Die Potenzialentwicklung der gesamten Organisation wird initiiert und gefördert.
- Stärken des inneren Zusammenhalts (Resilienz).
- Die Informationsarchitektur des VSMs erlaubt die Entwicklung einer hohen Anpassungsfähigkeit an ein dynamisches Umfeld (Adaptivität & Innovation)

Der Autor und sein Buch. Für alle, die mehr wissen wollen, gibt es natürlich auch eine Website.
Somit komme ich zur zweiten Frage:
Ist das VSM nur eine komplizierte Lösung für ein komplexes System?
Zunächst: Es ist nur ein Modell (das hat Stafford Beer immer wieder betont), d.h. es ist im Sinne eines Werkzeugs mehr oder weniger nützlich. Es geht also nicht um eine absolute Wahrheit sondern schlichtweg um die Frage: Funktioniert es? Kann ich es anwenden? Liefert es mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die gewünschten Ergebnisse? Mit meiner Erfahrung (und allgegenwärtigen kognitiven Verzerrung) kann ich nur für mich sagen: Es funktioniert.
Nun zum letzten Punkt: Ist die Komplexität zu groß?
Das ist eine spitzenmäßige Frage, denn ich könnte jetzt semantisch auf dem Begriff surfen und zurück fragen “Welche Komplexität meinst Du denn?”, aber das würde den Rahmen jetzt wohl sprengen 😉
Mir scheint Komplexität immer dann gut bewältigbar (NICHT beherrschbar!), wenn ich mich an den Mustern orientiere, die mir begegnen. Daher reduziere ich meine Antwort auf folgendes Beispiel aus der Fuzzy Logic. Die Frage lautet: Welche Person ist hier abgebildet?
Richtig, ich bin es.
Die Einsicht lautet, dass ob fehlender “Detail-Information” (4000% in diesem Fall), die Aussage selbst wahr ist. Die Mustererkennung ist präzise genug.
Beim VSM geht es letztendlich auch nur um das Verständnis von fünf Elementen und deren Funktionen, sowie drei Prinzipien und Axiomen und einem Gesetz. Es ist also ein Verhältnismäßig kleines Rahmenwerk um eine gehörige Portion an Komplexität höchstmöglich (nicht absolut) zu absorbieren.
Meiner Erfahrung nach kommt man beim Umgang mit Komplexität nicht umhin, die mentalen Künste der Abstraktion und Parallelität permanent zu üben.
Das Beste finde ich am VSM: Die Gestaltung der Verbindungen der Elemente (Kanäle) obliegt dem Anwender des Modells. Schlussendlich muss “das Management” selber wissen, ob sie eine Arschloch-Fabrik sein wollen, oder ein Umfeld schaffen, in dem der Begriff Lebensfähigkeit mehr als eine Metapher ist.
Und klar ist: Den Wettlauf mit der Komplexität können wir nicht gewinnen – aber es ist möglich mit viel mehr Freude und intrinsischer Sinnkopplung durch die Komplexität zu navigieren. Wer’s für sich selbst verinnerlicht, hat im “großen Spiel” einen Vorsprung.
Mal wieder platt formuliert: Man verliert zwar ohnehin, aber später und kann in der Zeit mehr lernen und zusammen in der Organisation schneller ein neues Wissensplateau erreichen.
Würdest Du jetzt das Buch kaufen? 🙂
Andreas Schiel:
Puh, Mark, also ehrlich gesagt glaube ich, dass die Zeit für einen elevator pitch selbst wenn man eine Aufzugfahrt im Burj Khalifa (laut Wikipedia das höchste Gebäude der Welt) zum Maßstab nimmt, nicht ausgereicht hätte. Aber weil ich in dieser Disziplin selbst nicht für Höchstleistungen verdächtig bin, lasse ich Dir das mal durchgehen. Du hast ja einige bemerkenswerte Punkte genannt, die durchaus darauf schließen lassen, dass man mit dem VSM Komplexität in nennenswertem Maße reduzieren kann. Aber um das nochmals auf eine etwas allgemeinere Ebene zu bringen: Was ich noch irritierend an der Sache finde, ist gerade das, was Du mir im Staubsaugervertreter-Modus so wärmstens ans Herz gelegt hast. Nämlich die Aussicht, die gängigen Organigramme durch das Modell von Beer zu ersetzen.
Das klingt erst einmal sehr sinnvoll und hilfreich, denn wie irreführend und demotivierend können diese Dinger sein, weil sie z.B. informelle Hierarchien und Kommunikationswege nicht berücksichtigen oder Personen Kompetenzen zuerkennen, die diese zwar formal, qua Amt, aber leider nicht ohne weiteres auch im fachlichen Sinne besitzen – oder genau umgekehrt, dass also jemand fachliche Kompetenzen besitzt, die er aber nicht zur Anwendung bringen darf. Allerdings frage ich mich, ob dieses kontraintuitive und selbstbestimmter Arbeit entgegenwirkende Moment von Organigrammen (und damit der hierarchischen Organisation nach Zuständigkeiten allgemein) durch ein Modell wie das VSM behoben werden könnte. Sind nicht eigentlich beides sehr instrumentelle, ingenieursmäßige Zugänge zu einem Gegenstand, dessen Komplexität sie in zumindest einer bestimmten Hinsicht zu stark reduzieren, nämlich wenn es um die, ich sage mal ganz allgemein, menschliche, intuitive und spontane Seite einer Organisation geht?
Was ich damit sagen will: Du spazierst da unter Umständen mit Deinem Modell in ein Unternehmen und erklärst denen, das sei jetzt ihr neues Organisationsmodell. Jetzt müssen das die Leute aber erst einmal begreifen und das auch in einem wörtlichen Sinne. Sie müssen sich das ja irgendwie aneignen, damit sie danach handeln können. Und da wäre jetzt meine (vielleicht naive?) Befürchtung, dass so ein Modell nur als eine neue Form von Obstruktion empfunden wird, also als eine Vorgabe vom Management, die sagt: Das ist jetzt unsere neue Struktur Leute, handelt danach. Damit hast Du dann natürlich die tumbsten Ausformungen des Taylorismus, der zentralistischen Planung und des linearen Denkens überwunden. Aber ist das ein Modell, das wirklich jede/n in der Organisation ermächtigt, sich in sinnvoller Weise einzubringen? Wenn ja, dann erfordert das eine Übersetzung dieses definitiv komplizierten Modells, oder nicht? Und das kann, wenn Du Dich an alle richtest, wahrscheinlich kein dickes Buch sein.
Kannst Du vielleicht mal erläutern – vielleicht hast Du das ja auch schon gemacht? – wie Du das in einem Unternehmen so einführen würdest, dass alle Mitarbeiter das positiv aufnehmen und danach handeln (können)? Oder ist das gar nicht nötig?
Mark Lambertz:
Verzeih’ mir bitte die lange Fahrt mit dem Aufzug, aber es ist schwierig über Komplexität zu sprechen ohne zu trivialisieren. Zwangsläufig fällt das etwas ausführlicher aus.
Meine Formulierung, dass das VSM eine Alternative zu den bisherigen Organigrammen sei, zeigt perfekt, wie leicht die eigentliche Bedeutung missverstanden werden kann, wenn sie nicht weiter erläutert wird.
Und sicher: Es ist möglich das Modell systematisch zu missbrauchen und es als effizientes Topdown-Management anzuwenden – dann lässt sich praktischerweise mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vorhersagen, welchen Preis die Organisation zu zahlen hat. Die negative Bandbreite reicht vom Burn-Out, eklatanten Qualitätsproblemen, bishin zur Sabotage.
Das VSM ist keine Schablone, sondern dient zum Bewusstmachen der elementaren Zusammenhänge – und das funktioniert dann am Besten, wenn alle Mitarbeiter eingebunden werden. Denn darum geht es ja: den Zweck und die Bedeutung jedes Einzelnen als Teil des Ganzen zu vermitteln und dann “gut” zusammen zu arbeiten. Das ist primär ein kommunikatives Thema und hat mit Wertschätzung, Respekt und einem Dialog auf Augenhöhe zu tun – das sage ich den Menschen in den Unternehmen auch klar und deutlich. Mut kann man sich nicht kaufen. Als Berater gebe ich das Wissen im Umgang mit dem Tool auch nicht jedem zur Hand, eben weil damit systematisch Leid verbreitet werden kann.
Insofern wirkt der Lernaufwand auch erstmal wie ein Filter. Das VSM muss man sich erarbeiten, da bekommt man zu Beginn nichts geschenkt. Mit dem Buch wollte ich eine möglichst einfache, stabile und doch ausführliche Grundlage für den Interessenten bauen – eben weil es komplex ist, und nicht kompliziert.
Vielleicht ein paar Zahlen noch zum Buch, die reine Einführung betreffend, um die Aussage ‚dickes Buch’ zu relativieren:
Ca. 120 Seiten mit 38 Grafiken, Leseaufwand rund fünf Stunden.
Mir erscheint das im Verhältnis zum Erkenntnis-Potenzial vertretbar. Und glaub’ mir: Ich war zumindest bemüht diese Einführung so kompakt und praxisorientiert wie möglichen zu verfassen.
Zum Glück lautet mein Motto: Fail better.
Andreas Schiel:
Vielen Dank für diese Erläuterungen! Da verstehe ich jetzt, glaube ich, einiges besser, und du hast gleich eine ganze Hand voll Sorgen bei mir ausgeräumt. Damit kann ich Dir jetzt beruhigt noch eine Frage zum Titel Deines Buches stellen, die Du auch ganz unbesorgt beantworten kannst: Freiheit und Verantwortung für intelligente Organisationen klingt, zumindest in meinen Ohren, sehr vielversprechend. Kannst Du diese drei Begriffe aus Deiner Sicht erläutern? Was genau dürfen sich Deine LeserInnen oder auch von Dir beratene Organisationen da erhoffen?
Mark Lambertz:
Das VSM zeigt sehr gut, warum direktive Macht zur Erhöhung der Lebensfähigkeit im System verteilt werden muss. Ohne in die Details gehen zu wollen: Entscheidungen werden DORT getroffen, WENN diese benötigt werden. Jedes Element hat seine spezifische Servicefunktion FÜR die anderen Teile.
Das bedeutet es braucht Menschen in der Organisation, die mit dieser Freiheit umgehen und die dazugehörige Verantwortung übernehmen können. Klar ist: Nicht jeder Mitarbeiter hatte in seiner Sozialisierung die Chance diese Fähigkeiten zu entwickeln. Aber es ist nie zu spät das zu lernen.
Ich bin fest davon überzeugt, dass die “Gesamtintelligenz” des Systems steigt, wenn eigenverantwortliches Handeln gefördert wird und damit ein höherer Grad an interner und externer Komplexität absorbiert werden kann. Das erhöht meiner Erfahrung nach die Qualität der Arbeitsergebnisse (gut für den Unternehmer) und die Qualität der Arbeitszeit (gut für den Arbeitnehmer).
Andreas Schiel:
Okay, zwar bleiben bei mir noch Fragen offen, was die Details angeht, aber Du stellst natürlich vollkommen richtig fest, dass man über Komplexität zumindest ein bisschen länger nachdenken muss, wenn man eine Chance haben will, produktiv mit ihr umzugehen. Was nun das große Ganze angeht, lebe ich mal meinen philosophischen Begriffs- und Definitionsfetischismus ungehemmt aus und versuche abschließend aus meiner Sicht zusammenzufassen:
Das VSM schafft – wenn richtig angewendet – kreativere, produktivere und resilientere Organisationen, indem es u.a. durch Dezentralisierung von Entscheidungen und Optimierung des Informationsflusses Komplexität absorbiert. Und den Zugang zu diesen Verbesserungen eröffnet es durch eine im Vergleich zur traditionellen Linienhierarchie weitaus genauere und der Wirklichkeit angemessenere Analyse und Darstellung von organisationellen Strukturen. Bei der Umsetzung kommt es dann aber auch sehr auf die beteiligten Menschen an, weil selbstständiges Denken und verantwortliches Handeln nicht einfach durch ein neues Organisationsmodell verordnet werden können.
Kann man das so stehen lassen?
Mark Lambertz:
Andreas, Douze Points – ich habe nichts hinzuzufügen 🙂