
Nur Kitsch und Engelschöre? Von wegen: Liebe könnte ein Schlüsselrolle bei der sozialen (R)evolution unserer Gesellschaften und Organisationen spielen.
Erich Fromm erinnert uns an die Grundlagen von Kreativität und Innovation – und weist uns den Weg aus Komplexitätsangst, Boreout, Innovationsblockaden. Mitten hinein in die Liebe.
Jemand, der heute in Arbeit steht und dem seine Tätigkeit nicht zusagt, sieht sich oft gezwungen weiterzumachen, weil er nicht die Mittel besitzt, um eine Arbeitslosigkeit von nur ein oder zwei Monaten riskieren zu können, und weil er, wenn er seine Stelle freiwillig aufgibt, natürlich keinen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung hat. Tatsächlich reichen jedoch die psychologischen Auswirkungen dieser Situation viel tiefer. Schon die Tatsache, dass er nicht riskieren kann, entlassen zu werden, führt leicht dazu, dass er von seinem Chef und vor allen, von denen er abhängig ist, Angst hat. Er wird Hemmungen haben, ihnen zu widersprechen; er wird versuchen, sich bei ihnen beliebt zu machen, und wird eine unterwürfige Haltung einnehmen, weil er ständig Angst hat, der Chef könnte ihn auf die Straße setzen, wenn er sich gegen ihn durchzusetzen versuchte. (S. 235)
Die Angst geht um, in der Arbeitswelt. Nicht ständig, nicht überall. Aber latent und chronisch allemal. Heute noch fast genauso wie vor 60 Jahren, als Erich Fromm die obigen Zeilem in seinem Buch Wege aus einer kranken Gesellschaft schrieb. Aus diesem Buch werden wir in diesem zweiten und letzten Teil unserer kleinen Serie noch einmal etwas soziologischen Nektar saugen, um das, was in unseren Organisationen und unserer Gesellschaft grundsätzlich schiefläuft, besser zu verstehen und Alternativen zu diesen – wie jedenfalls der Psychiater Fromm sagen würde – pathologischen Prozessen und Strukturen zu finden.
Beim letzten Mal haben wir viel über die Angst gesprochen, die entstehen kann, wenn Menschen mit Komplexität konfrontiert sind und (plötzlich) den Überblick verlieren. Komplex ist auch der Arbeitsmarkt, der seinerseits in Wechselwirkung steht mit einem noch größeren Markt. Der hält bekanntlich nicht nur für Arbeitnehmer, sondern auch für Unternehmen unwägbare Risiken bereit. In Teil 1 haben wir gelernt: Erich Fromm möchte der Angst vor solchen Risiken begegnen mit Liebe und Solidarität. Nur klingt das natürlich ein bisschen auch nach Kitsch und Engelschören – und man braucht einen Augenblick um sich zu vergegenwärtigen, wie das in der Realität gemeint sein könnte.
Ein denkbares Gesicht der Liebe: Grundeinkommen
Aber: Lesen bildet – und wenn man richtig tief ins Buch schaut, wie wir das hier immer machen, findet man schnell erste Antworten. Eine lautet – Vorsicht Klischeefalle! – Grundeinkommen. Jawoll, Erich Fromm liebäugelte schon in den 1950er Jahren mit einem solchen, und das in ziemlich charmanter Weise:
Es würde praktisch heißen, dass jeder Bürger Anspruch auf eine Summe hat, die ihm sein Existenzminimum sichert, selbst wenn er nicht arbeitslos, krank oder alt ist. Er könnte diese Summe auch dann verlangen, wenn er seine Stelle freiwillig aufgibt, wenn er sich für eine andere Art von Arbeit vorbereiten will oder wenn ihn irgendwelche anderen persönlichen Gründe am Geldverdienen hindern […]. Es sollte jedoch auf eine bestimmte Periode, sagen wir, auf zwei Jahre, begrenzt bleiben, um nicht eine neurotische Haltung zu erzeugen, bei der der Betreffende sich sozialen Pflichten jeder Art entzieht. (S. 234)
Ein befristetes Grundeinkommen also? Das trifft ziemlich genau die Ambivalenz, die Zweiseitigkeit und Zweideutigkeit dessen, was Fromm praktisch unter Liebe, unter Solidarität versteht. Wie nämlich stellte er sich noch einmal eine ‚gesunde‘ Gesellschaft vor, in der Menschen nicht angstgetrieben und verschreckt von Job zu Job, von Gefälligkeit zu Gefälligkeit hecheln, dazu konform lächeln und eifrig opportunistische Piroutten drehen, um Arbeit- oder Geldgebern, Fremden und Verwandten, Kunden und Bekannten zu gefallen? Richtig:
Eine gesunde Gesellschaft fördert die Fähigkeit des einzelnen, seine Mitmenschen zu lieben, schöpferisch zu arbeiten, seine Vernunft und Objektivität zu entwickeln und ein Selbstgefühl zu besitzen, das sich auf die Erfahrung der eigenen produktiven Kräfte gründet. (S. 54f)
Die Erfahrung der eigenen produktiven Kräfte (!) Fromm, der in seinem Bestseller Die Furcht vor der Freiheit nicht müde wurde, immer wieder daran zu erinnern, dass die ‚Freiheit von‘ (nämlich die passive Freiheit von staatlicher und gesellschaftlicher Unterdrückung, finanziellen und privaten Zwängen) ohne die ‚Freiheit zu‘, (nämlich die aktive Freiheit, den eigenen Lebensweg zu gehen, das eigene Potenzial zu entfalten, den richtigen Beruf zu finden und zu ergreifen) nur eine halbe Freiheit sei, denkt auch hier komplex genug für die Wirklichkeit: Ein Grundeinkommen im Sinne Fromms wäre natürlich kein Wohlstandspflaster, keine Rundumversorgung für Erschöpfte und Faule, kein sozialstaatliches Monstrum, das Erwerbswelt und Gesellschaft lähmt.
Es wäre das glatte Gegenteil davon: Ein Trampolin, das nicht nur den unfreiwilligen, sondern auch den freiwilligen ‚Absturz‘ aus einträglicher Erwerbstätigkeit, Ehe oder (reichem) Elternhaus, aus Sicherheit und Konformität abfedert. Nicht aber, um den solcherart gestürzten bloß abzufangen und einzulullen, sondern um ihn möglichst bald, möglichst direkt in neue Höhen des beruflichen und persönlichen ‚Erfolges‘ zu katapultieren. Dieser Erfolg allerdings, würde nicht gemessen an finanziellem Verdienst und auch nicht am Applaus der Massen. Sondern er bemisst sich daran, ob einer seine „produktiven Kräfte“ entfaltet.
Das ist gleichzeitig ganz traditionell und humanistisch gedacht (Schiller würde jubeln und Goethe mindestens beifällig nicken!) und dennoch absolut auf der Höhe der Zeit: Fromm möchte genau das fördern, wonach sich alle, die gerade #Arbeiten40, #ZukunftderArbeit und #NewWork fleißig in die Tasten hauen, ohne notwendiger Weise zu verstehen, worüber sie da schreiben, herzlich sehnen: Produktivität, Kreativität, Innovation. Ob die aber auch alle das Grundeinkommen als Disruption wertschätzen würden?
So lange man im Silicon Valley dafür ist, vielleicht schon…aber weg vom Dauerbrenner Grundeinkommen und zurück zum Grundsätzlichen. Die erste Antwort auf unsere Frage, wie man sich Liebe und Solidarität jenseits von Engelschören, in der schnöden Realität, vorstellen kann, lautet also: Zum Beispiel als finanziellen Rückhalt für diejenigen, denen bis jetzt der Arbeitsmarkt und der Rest der Gesellschaft nicht selten die kalte Schulter zeigen, weil sie wirre Ideen und Zielsetzungen haben, aus denen zwar vielleicht mal ein kreativer Gedankenblitz, eine grandiose Idee, eine bahnbrechende Erfindung oder begeisternde Dienstleistung werden könnte – die aber gerade nicht umgehend rentabel und schon gar nicht konform wirken. Als freundschaftlich-liebevoller Vertrauensvorschuss der Gesellschaft gewissermaßen – und zwar gerade auch für diejenigen, die durchaus brav und fleißig ihrer mitunter gut bezahlten Arbeit nachgehen. Als beruhigendes Wissen auch für sie: Wenn das hier keinen Sinn mehr macht, dann hör‘ ich auf – und fange etwas Neues an. Vielleicht schaut mal einer komisch und fragt mich irritiert – aber verhungern muss ich nie und nimmer. Nicht einmal rechtfertigen muss ich mich wirklich. Weil die anderen mich Durchfüttern, ohne mit der Wimper zu zucken. Einfach so. Wie Freunde oder Eltern, die einfach da sind, wenn man sie braucht.
Wo Liebe fehlt, droht Lustlosigkeit – oder sogar die Lust an der Zerstörung
Das also wäre gelebte Solidarität und Liebe. Überflüssig? Übertrieben? Vielleicht arbeiten manche aus Liebe – aber die meisten arbeiten doch auch noch ganz gut aus Angst vor – ja, genau, Hieben! Jedenfalls lassen sich doch Menschen ziemlich gut in die Pflicht und an die Kandarre nehmen, das machen sie ja sogar freiwillig mit sich selbst. Sollen, müssen wir das wirklich ändern? Wo kämen wir da hin? In eine Gesellschaft und eine Arbeitswelt, sagt Fromm, die sich von Destruktivität weitgehend verabschieden könnten. Destruktivität?
Nun ja. Lustlosigkeit, Boreout, innere Kündigung. Das kennen wir alle. Nervt. Aber gehört ja irgendwie zum Alltag. Leider. Wenn man aber einmal auf die Zahlen schaut, die das mutmaßlich und tatsächlich an Verlusten für die Unternehmen bedeutet, bekommt man schon eine Ahnung, was da an unserer so allseits geschätzten kollektiven Wertschöpfung zerstört wird. Soviel ist mal sicher. Aber: Fromm meint das gar nicht so abstrakt. Er meint das ganz praktisch. Wenn ich nicht mit Liebe und Leidenschaft bei der Arbeit bin…mache ich sie nicht gut. Fange ich vielleicht an schlampig zu werden. Werde ich unter Umständen vollkommen gleichgültig gegenüber dem, was der Arbeitgeber – ob zu Recht oder zu Unrecht – von mir erwartet. Und das ist der Moment, in dem ich anfange, indirekt oder sogar direkt und bewusst das zu sabotieren und zu zerstören, was mein Chef gerade aufbauen möchte. Paff!
Und woran liegt das, Herr Fromm?
Die Destruktivität ist eine sekundäre Entwicklungsmöglichkeit, die in der menschlichen Existenz selbst wurzelt und die die gleiche Intensität und Macht besitzt, wie sie jede Leidenschaft haben kann. […] Der Wille zu zerstören muss entstehen, wenn der Wille, etwas zu schaffen, nicht befriedigt werden kann. (S. 31)
Das heißt übrigens nicht, dass alle, die ihre Schaffenskraft in der Arbeit oder sonstwo im Leben nicht enfalten können, automatisch zum Saboteur werden. Denn, „…die Destruktivität führt zum Leiden, vor allem für den Zerstörer selbst.“ (S. 31) Natürlich kann ich meine Destruktivität nämlich auch nach innen richten. Da haben wir das ganze Panorama von Stresserkrankungen, Rückenleiden, Magengeschwüren, Burnouts und Depressionen oder einfach nur Schuldgefühlen. Welch schauerlicher Anblick. Macht auch nicht produktiv. Und schon gar nicht kreativ, höchstens in der Wahl der nächsten erfolgversprechenden Behandlungsmethode meiner Leiden. Gesundheitsmanagement ist schließlich auch eine Beschäftigung – und für manche sogar einträglich.
Augenhöhe kann auch ein Ausdruck von Liebe sein
Deshalb also kommt Fromm immer wieder mit der Liebe. Mit Leidenschaft. Mit Schaffenskraft. Sind sie eigentlich ein notorischer Idealist, Herr Fromm?
Alle Menschen sind Idealisten und können gar nicht umhin, Idealisten zu sein, vorausgesetzt, dass wir unter Idealismus das Streben nach der Befriedigung von Bedürfnissen verstehen, die spezifisch menschlich sind und über die physiologische Bedürfnisse des Organismus hinausgehen. (S. 25)
Ach so. Sie wollen ein Leben, das nicht nur physiologische Bedürfnisse befriedigt. Krass! Naja, jedenfalls ziemlich Generation Y, dieser Fromm. Und übrigens auch noch ein Anhänger von #Augenhöhe. Ja, wirklich. Ein anderer der von ihm vorgeschlagenen Wege aus einer kranken Gesellschaft besteht nämlich darin, den Menschen die Arbeit in ‚Werkgemeinschaften‘ schmackhaft zu machen. Die findet er vor allem im Frankreich der Nachkriegszeit und sie wirken wie Vorläufer der dort heute so genannten entreprises libérées, der ‚befreiten Unternehmen‘. Da begegnen sich Menschen verschiedener Milieus und Weltanschauung und arbeiten gemeinsam, mit Leidenschaft und Schaffenskraft eben. Und mit Toleranz und Respekt für Ihre Kollegen und Mitmenschen. Und ohne Chef, bzw. mit gewählten Chefs, die regelmäßig wechseln! Die Unternehmensdemokratie lässt grüßen.
Jaja, ich höre es schon wieder raunzen: ‚Das geht doch alles nicht! Das ist doch unrealistisch! War ja klar, dass einer, der von Liebe faselt, Unternehmen auch gerne ‚befreien‘ und demokratisieren möchte. Sind doch alle vom selben Schlag, diese Utopisten.‘ Gut, gut, touché. Vielleicht bin auch ich einer von denen. Immerhin habe ich, ach, über Liebe, Kommunikation und leider auch Ethik promoviert. Das war ganz schön kompliziert und nicht immer leicht. Wenn Sie ganz viel Zeit haben, können Sie das Ergebnis hier nachlesen.
Liebe als wertschätzende, respektvolle Kommunikation
Die Quintessenz verrate ich Ihnen aber auch gern sofort: Man kann Liebe wirklich ohne Engelschöre denken – und auch leben! Es kömmt aber darauf an, wie man sie interpretiert! Als abgöttisch verehrtes und gefürchtetes Gefühl – oder ganz einfach als Phänomen unseres sozialen Miteinanders, das viele Gesichter annehmen kann, und das wir uns zu Nutze machen können, wenn wir nur wollen. Gerade bin ich dazu über einen sehr treffenden Tweet gestolpert – vielen Dank, Frau Dr. Flämig!
In meiner Dissertation habe ich einmal ausprobiert, was passiert, wenn man Liebe als eine bestimmte Art und Weise der Kommunikation auffasst. Das Ergebnis war verblüffend: Plötzlich kann man Haltungen und vor allem Verhaltensweisen identifizieren, die im Ergebnis genau das befördern, was wir im sozialen Miteinander gern (Nächsten)Liebe oder eben auch Solidarität nennen. Dafür muss aber keiner auf die Couch – und großangelegtes Changemanagement ist auch verzichtbar. Vielmehr würde es reichen, bestimmte Grundregeln einer wertschätzenden, respektvollen – aber nicht konfliktscheuen! – Kommunikation zu beherzigen, wie man sie zum Beispiel beim genialen Paul Watzlawick nachlesen kann. Eine Kommunikation, die niemanden runtermacht, wenn er mal falsch liegt. Weil sie sich nicht auf den heutzutage ohnehin reichlich wackeligen Sockel unumstößlicher Objektivität und Wahrheit stellt, sondern Menschen seien lassen kann. Und gerade aus dieser Gelassenheit und Zurückhaltung die Souveränität entwickelt, echte Probleme, Konflikte und wirklich eindeutige Irrtümer anzusprechen, bevor es zu spät ist. Ohne Sieger, ohne Besiegte.
‚Weiche‘ Faktoren als Grundvoraussetzung von Produktivität und Kreativität im 21. Jahrhundert
Soweit die Theorie. Können Sie jetzt immer noch lässlich finden, weil utopisch. Meinetwegen. Schenken Sie mir aber doch trotzdem noch ein paar Minuten Ihrer Zeit, um auf einen grundsätzlichen Punkt zu sprechen zu kommen, der sogar knallharte und rationale Manager-Typen, wie Sie vielleicht einer sind, nachdenklich machen könnte. Kennen Sie zufällig das Papier des HR-Kreises der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften „Die digitale Transformation gestalten“? Da haben sich Personalvorstände der großen DAX-Konzerne zusammengesetzt und einmal gründlich über die Zukunft der Arbeit nachgedacht. Und wissen Sie, was die z.B. auf S. 20 ihres Papiers schreiben?
Im Innovationswettbewerb wird es daher darauf ankommen, sich zu differenzieren und auf andere Eigenschaften zu setzen, die uns im Wettbewerb weiterbringen können: vor allem Kreativität und Innovationsfreudigkeit. Ziel muss es sein, etwas wirklich Neues hervorzu- bringen, nicht nur immer mehr und immer schneller zu produzieren.
Wenn Top-Manager so etwas sagen, dann muss es fast schon Mainstream sein – und wer wollte hier widersprechen? Was sollen denn das ‚Hochlohnland‘ und die ‚Wissensgesellschaft‘ Deutschland sich auch sonst für die Zukunft vornehmen? Aber wie macht man das? Wann sind Menschen besonders kreativ? Wenn sie dringend schnell noch ein paar Anweisungen befolgen müssen, weil sie sonst vielleicht ihren Job verlieren? Wann entwickeln sie Freude am innovativen Denken und Handeln? Wenn ihnen bei jedem eigenen Einfall jemand auf die Finger haut? Oder vielleicht vielmehr dann, wenn ihnen ihre Umwelt signalisiert: Du kannst machen, ausprobieren, testen. Wir vertrauen Dir. Früher oder später wird schon etwas Brauchbares, ja etwas ganz Besonderes dabei herauskommen!
Mit anderen Worten: Wenn man den Wandel durch Digitalisierung und Arbeiten 4.0 in seinem Wesenskern versteht, als das, was er ist – oder jedenfalls sein sollte, wenn er auch nur irgendwie Sinn ergeben soll – eine kreative Revolution nämlich, dann wird man nicht umhinkommen, zu erkennen, dass das ganze technische Pipapo und Theater eigentlich nur die Begleitmusik ist zu einem durch und durch menschlichen Wandel. Weil nämlich in der Arbeitswelt und Gesellschaft von morgen nicht ganz besonders das zählen wird, was Computer können, sondern vielmehr das, was nur Menschen können – weil die Technik ihnen endlich den ganzen Rest abnehmen wird. Das aber, was nur Menschen können, erfordert auch menschengemäße Umstände. Erfordert z.B. ein soziales Umfeld, in dem Menschen nicht nur irgendwie über die Runden kommen, bis zum nächsten nervösen Leiden, Burnout oder Boreout.
Als Erich Fromm vor sechzig Jahren die Idee und die Forderung formulierte, Gesellschaft und Arbeitswelt müssten sich an den Bedürfnissen des Menschen orientieren – mitten auf dem Höhepunkt der modernen industriellen Massenproduktion, am Scheitelpunkt von Taylorismus und Fordismus – da war das vielleicht wirklich nicht viel mehr als (s)ein frommer Wunsch, ein Nice-to-have für geplagte Fabrikarbeiter – verzichtbar aber für die Besitzer dieser Fabriken und ihre Kunden. Heute aber, sieht es ganz anders aus. Wenn die Digitalisierung und das neue Arbeiten wirklich Disruptionen und Revolutionen auslösen sollen – wie das gerade allerorten hinausposaunt und zu Recht (!) erwartet wird – dann ist heute UNUMGÄNGLICH was Erich Fromm damals forderte.
Ohne Humanisierung der Arbeit keine Kreativität, keine Innovation, keine Disruption. Sondern nur ein müdes Weiterso. Die Kreativität, die wir uns so sehr wünschen, Erich Fromm investiert und verortet sie dort, wo seit Jahrzehnten viel zu wenig Hirnschmalz hingeflossen ist: Nämlich in die Frage, welche sozialen Faktoren eigentlich die Bedingung der Möglichkeit für Innovation und Wandel unserer Gesellschaft und unserer Organisationen sind. Alle reden von der digitalen Revolution. Schön. Gerne mehr davon. Aber wer redet von einer sozialen Revolution? Nicht als Klassenkampf. Danke, dafür bin jedenfalls ich nicht zu haben. Sondern als gemeinsam verstandene Aufgabe der schrittweisen Verwirklich der Ansprüche von Humanismus und Aufklärung.
Große Worte? Mag sein. Aber klein anfangen kann man trotzdem. Zum Beispiel, wenn man in die angsterfüllten Augen eines Opfers unüberschaubarer Europapolitik oder ungeschickten Changemanagements blickt: Einfach mal an Liebe denken. Oder an Vertrauen. An Resonanz. Und dann – nur ganz kurz mal, sonst geht’s vielleicht nach hinten los! – aufhören zu denken und anfangen zu fühlen. Endlich aufhören, Menschen mit Maschinen zu verwechseln. Eigentlich ziemlich simpel. Eigentlich. Denn was Erich Fromm vor sechzig Jahren schrieb, trifft auch heute noch immer zu:
Die Verwirklichung eines Zustands der Humanität, der den Visionen unserer großen Lehrer entspricht, liegt in unserer Reichweite, und trotzdem laufen wir Gefahr, unsere gesamte Zivilisation zu vernichten oder zu Robotern zu werden. Einem kleinen Stamm wurde vor Tausenden von Jahren gesagt: „Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben.“ Vor diese Wahl sind auch wir gestellt. (S. 254)
Auch mal richtig tief ins Buch schauen? Für diesen Artikel gelesen:
Fromm, Erich: Wege aus einer kranken Gesellschaft, in: Erich Fromm: Gesamtausgabe, Band 4, Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1999 (Einzelausgaben des hier besprochenen Werks sind im Buchhandel und in Bibliotheken erhältlich.)
Und noch ein Hinweis in eigener Sache: Selbst vom Lesen muss man mal Urlaub machen. In dieser Reihe schauen wir erst am Freitag, den 19. August 2016 wieder richtig tief ins Buch.