Unter dem Motto Work-Life-Balance4.0 hat Thomas Kujawa von familienfreund KG zu einer Blog-Parade aufgerufen. Da mache ich gerne mit. Aber das 4.0 könnte man auch weglassen, finde ich…
Vergesst Work-Life-Balance! Oder verpasst ihr wenigstens ein Update, einen feschen Facelift mit einer 4 vorne und einer 0 hinten! Denn sie ist in Verruf gekommen. Weil sie nach einer unpassenden und ziemlich spießigen Trennung von Arbeit und Leben klingt, nach einem Lebensentwurf, den kaum einer noch offiziell haben oder gar gut finden will. Ach, Work-Life-Balance ist ein uralter, gruseliger Begriff aus einer finsteren Vergangenheit, als alle noch Proletarier und Handlanger irgendwelcher Kapitalisten waren und von Selbstverwirklichung im Beruf nur träumen konnten. Pfui, weg damit, das macht schlechte Laune und ein mieses Image!
Aber Moment mal: Nein, hoch lebe die Work-Life-Balance! Denn kaum ein Begriff hat jemals ehrlicher die Schizophrenien und Pathologien unserer modernen Arbeitswelt auf den Punkt gebracht. Höchstens noch der Ausdruck compensation, der bekanntlich in weltläufigen Unternehmen für die finanzielle Entschädigung fleißiger (leitender) Angestellter für ihre Mühen steht und so viel mehr sagt als das deutsche Wort Gehalt. Also bleiben wir ruhig bei der Work-Life-Balance und setzen wir meinetwegen auch noch ein 4.0 dahinter, nur allerdings, um klarzustellen, dass diese knifflige Ausbalanciererei zwischen einem Job, den wir nicht mögen und einem Leben, in dem wir fast nicht mehr vorkommen, auch in 2016 und darüber hinaus noch zum Alltag vieler, vieler ArbeitnehmerInnen und auch Selbstständiger gehören wird.
So. Und jetzt wollen Sie noch weitere Gründe hören, warum wir dieses Work-Life-Balance-Monstrum ruhig noch ein bisschen hegen und pflegen sollten? Aber gerne!
1. Erkenntnis ist der erste Schritt zur Lösung eines Problems.
So lange dieses, ich nenne es mal kurz das WLB-Monster, noch unter uns weilt, schützt es uns wenigstens vor schädlichen Verkennungen der Realität. Da können sich nämlich Arbeitende ehrlich die Frage stellen: Brauche ich diese Balance? Ist das für mich ein Thema? Und wenn Sie dann feststellen: Ja, verdammt, ich muss mein Leben vor meiner Arbeit beschützen, weil letztere ständig droht, es mit Haut und Haaren aufzufressen, dann haben sie mit dem WLB-Monster wenigstens ein schönes, griffiges Bild vor Augen. Und Arbeitgeber, denen die Vogel-Strauß-Taktik und das Augenverschließen nicht so gut passen, weil sie sich wenigstens ab und zu mal gerne auf Augenhöhe mit Ihren Mitarbeitern begeben, wissen, wenn die ein WLB-Monster auf dem Schreibtisch oder neben der Fräsmaschine sitzen haben, dann geht das auch sie, ihre Chefs was an. Natürlich können Sie Ihren Angestellten auch Achtsamkeitskurse, Gesundheitstrainings und Zuschüsse zur Kinderbetreuung verpassen und selbst einen schicken Workshop über mordsmegaverdächtiges Employer-Branding (am Besten 4.0!) besuchen. Gut. Bitte. Probieren Sie das aus. Ich persönlich nehme da doch lieber mit dem altbekannten Monster vorlieb, dann bekomme ich wenigstens nicht so ein nervöses Zucken oder irres Grinsen ins Gesicht, wie manche von den Leuten, die ihren Job eeeiiiiinfaach liiiieeeeben!!!

Monster. Viele mögen da gar nicht hinschauen. Ich mag sie. Sie sind so ehrlich.
2. Der Weg zum lebensfreundlichen Unternehmen kann ein verdammt steiniger sein.
Der Coach und Berater Sven Lehmann kennt sich aus mit Work-Life-Balance. Er hält allerdings nicht besonders viel von diesem Konzept, wie er gerade wieder im Rahmen dieser Blog-Parade in einem hervorragenden Artikel erklärt. Und er hat einen wirklich tollen Begriff gefunden, der im Prinzip geeignet ist, das WLB-Monster endgültig aus dem Feld zu schlagen. Ein lebensfreundliches Unternehmen sagt er, muss sich nämlich um die Balance zwischen etwas ungeliebtem (Arbeit) und etwas das diesem vorgezogen wird (Leben) gar nicht mehr kümmern, weil in diesem Unternehmen so schön, erfüllend und menschlich gearbeitet wird, dass da jeder für sein Leben gern hingeht und seine Arbeit im Leben nicht aufgeben wollte. Arbeit und Leben verschwimmen dann zu einer einzigen leckeren Vanille-Soße (oder etwas anderem, auf das Sie gerade Appetit haben) und machen einfach Freude. Das klingt richtig prima, und gerade neulich war ich bei einem Unternehmen zu Besuch, das ziemlich den Eindruck macht, als würde es seinen Mitarbeitern genau das ermöglichen. Es hat allerdings – aufgepasst liebe 4.0-Freunde – doch tatsächlich Stempeluhren (!) um die Leute davon abzuhalten, zu viel zu arbeiten.
Aber gut, darum geht es mir gar nicht. Ich selbst bin jedenfalls ein glühender Anhänger von dem, was manche unheilschwanger „Entgrenzung“ nennen. Für mich war Arbeit schon immer Leben und Leben schon immer Arbeit. Aber leider längst nicht immer Erwerbsarbeit. Und hier fangen die Probleme ja an: Wenn man das mit der Lebensfreundlichkeit mal für einige Branchen durchbuchstabiert, dann klingt das doch recht ambitioniert. Ich denke da mal nur an ein paar Freunde, Bekannte und Verwandte von mir. Die Leute, an die ich gerade denke, arbeiten z.B. bei solchen Firmen wie den sogenannten Big Four. Sie wissen schon, diese merkwürdige Mischung aus Wirtschaftsprüfung und Unternehmensberatung, die sehr viel Zeit und Mühe darein investieren, großen Konzernen eine Steuerquote nahe Null zu verschaffen. Oder sie sind vielleicht Wirtschaftsanwalt bei einer Großkanzlei, die dafür sorgt, dass Investment-Fonds (ich benutze jetzt nicht dieses Insekten-Wort, das dürfen Sie sich dazudenken) möglichst viel rauskriegen aus vor die Wand gefahrenen Firmen und deren nicht so mächtige Gläubiger und Angestellten möglichst wenig. Oder sie haben es nicht ganz so weit gebracht und übersetzen einfach Anleitungen für Atom-U-Boote, damit auch Nicht-Deutsche deren etwaige Anwendung im Kriegsfall fehlerfrei beherrschen. Bei irgendeiner KMU-Klitsche übrigens – nicht, dass es wieder heißt, die Konzerne seien immer die Bösen und die Kleinen die Guten!
Verstehen Sie, worauf ich hinaus will? Wie machen Sie denn so ein Unternehmen lebensfreundlich? So viele betriebseigene Kitas, Bällebäder und flexible Arbeitszeitmodelle können die gar nicht schaffen, wie sie mit ihrem Geschäftsmodellen, mit ihrem Kern-Business ziemlich zerstörerisch, misantropisch und alles in allem einfach lebensfeindlich wirken. So. Das musste mal raus. Kommen wir nun zu Punkt 3.
3. Schizophrenie ist eine Krankheit. Kein Lebensentwurf.
Wenn Sie also das Pech haben, in so einem Unternehmen angestellt zu sein oder es zu leiten, dann ist Work-Life-Balance verdammt nochmal genau der passende Begriff für Sie! Denn dann haben Sie einen Job, von dem Sie sich und andere auf die eine oder andere Art schützen müssen. Das blöde ist nur: Wenn Sie in bzw. neben so einer Arbeit noch ein lebenswertes Leben mit echter Menschlichkeit, Zuwendung, Verantwortung für andere aufrecht erhalten wollen, dann werden Sie langfristig schizophren. Vielleicht auf eine scheinbar harmlose, psychiatrisch gänzlich unauffällige Weise. (Ich bitte den flappsigen Umgang mit einem Krankheitsbild, das viele nicht normale Menschen in ganz anderer Weise herausfordern und zutiefst erschüttern kann, zu entschuldigen. Ich weiß, dass das nicht dasselbe ist.) Aber in gewisser Weise schizophren werden Sie in solch einem Job eben doch – weil Sie in Ihrer Arbeit höchstens stellenweise und vorübergehend mal Mensch sein dürfen. Das schmerzt und ist anstrengend. Und sie führen dann wahrscheinlich ein Doppelleben und versuchen während der Zeit, die sie nicht als Arbeit verstehen, möglichst wenig an die Arbeit zu denken und umgekehrt, denn sonst würde die Arbeit endgültig unerträglich. Und Ihre ganz persönliche WLB ist dann eine ziemlich wackelige, aber es ist die einzige Rettung, die sie haben. Außer zum Roboter zu werden, der einfach nichts mehr empfindet, bei all dem sinnlosen Mist, für den er so bezahlt wird.
4. Und jetzt werden wir wieder versöhnlich.
Normalerweise bin ich ja eigentlich gar nicht so negativ. Ich finde die Idee von lebensfreundlichen Unternehmen wirklich und ehrlich ganz wunderbar – und bin überzeugt, dass es die heute schon haufenweise gibt. Und wenn die zum Normalfall geworden sind, brauchen wir irgendwann auch keine Work-Life-Balance mehr. Aber so lange das heute ebenfalls immer noch haufenweise existierende Gegenteil solcher lebensfreundlicher Unternehmen nicht annähernd aus der Welt geschafft ist, möchte ich auch das WLB-Monster nicht von seinem angestammten Platz verscheuchen. Schon gar nicht mittels irgendeiner 4.0, die suggeriert, wir vernetzen und digitalisieren einfach ein bisschen, und dann sind alle Probleme gelöst. Sondern lasst uns doch lieber ehrlich und gemeinsam daran arbeiten – und hier muss man vielleicht sogar sagen – dafür kämpfen, dass die lebensfreundlichen Unternehmen immer mehr werden und das WLB-Monster immer unbedeutender und blasser wird, bis es eines Tages ganz verschwunden ist. Aber dabei kommt es eben nicht an auf möglichst gewitztes Employer-Branding. Und auch nicht auf eine geschickte Ausbalanciererei von Arbeit, die diesen Namen kaum verdient, und Leben, das auch nicht so richtig zur Freude Anlass gibt.
Sondern auf Mut, Entschlossenheit und ganz viel Durchhaltevermögen und tief empfundene Liebe zum Leben und zu den Menschen, die uns darin begegnen. Und vielleicht braucht es dazu auch einfach mal eine Kündigung. Und den Mut zur Gründung eines wirklich lebensfreundlichen Unternehmens. Oder mehrerer. Amen.