Schafft mehr Komfortzonen!

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Ja, wer nichts wagt, wird auch nur selten etwas gewinnen, jedenfalls nichts von echtem Wert. Aber Freiheit und Verantwortung können auch verdammt anstrengend sein. Das wusste schon Erich Fromm – und wir sollten auf ihn hören, statt vorschnell Menschen zu verurteilen, die lieber eine ruhige Kugel schieben.

Könnte der Beginn eines neuen Jahres nicht genau der richtige Moment sein, für alle, die irgendwie unzufrieden mit ihrem Leben, ihrem beruflichen und/oder geschäftlichen Fortkommen oder auch dem Zustand der Welt allgemein sind, sich endlich aufzuraffen und es mal richtig krachen zu lassen? Und wird es nicht sowieso Zeit, dass sich jetzt alle gemeinsam, in diesem Zeitalter der Digitalisierung und ständiger disruptiver Verwerfungen in Wirtschaft und Gesellschaft jetzt mal so richtig zusammenreißen und mutig loslegen, statt einfach weiter zu machen wie bisher?

Kurz: Wird es nicht Zeit, die Komfortzonen dieser Welt mit rotweißem Flatterband abzusperren und alle, die bisher bei behaglicher Wärme dringesessen haben, rauszuscheuchen, damit sie draußen was lernen und leisten können? Hm. Weiß nicht. Das klingt irgendwie so Neunziger, und damals hat man vieles falsch gemacht, finde ich. Aber ich mache mal einen Selbstversuch: Meine Frau hat mir gesagt, ich sei zu theoretisch. Ich müsse mal mehr Anwendungsnähe entwickeln. Alles aber, was mit Praxis zu tun hat, liegt natürlich für studierte Philosophen wie mich meilenweit außerhalb der Komfortzone. Wirklich mutig also von mir, hier jetzt mal folgendes Feature einzuführen: Das Wichtigste für Macher-Typen in drei Punkten. Zu jedem Artikel in dieser Reihe. Ab jetzt:

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Das klingt natürlich auch ein wenig trivial. Wie die Bücher von Erich Fromm, wenn man sich nicht die Zeit und die richtige Stimmung gönnt, sie richtig zu verstehen. Genau das machen wir jetzt aber, und zwar schon zum zweiten Mal auf diesem Blog. Nachdem es im vergangenen Sommer um Liebe ging, müssen wir jetzt mal intensiv über Freiheit reden – und die Furcht vor ihr. Die kam zwar auch schon in der früheren Artikelreihe zur Sprache, aber da sollte man ruhig noch ein bisschen genauer hinsehen, gerade in Zeiten wie diesen. Dann, liebe Leserin und lieber Leser, werden Sie nämlich merken: Die drei Punkte da oben im Kasten sind gar nicht so trivial – und sie sind verdammt noch mal verdammt wichtig!

Auf zur Demontage der Komfortzone…

Beginnen wir, um das zu erklären, mal mit einer Demontage. Der Demontage der sogenannten Komfortzone, oder besser dessen, was Sie bisher dafür gehalten haben. Eine Komfortzone, darüber wird man sich zunächst schnell einig werden können, ist ein Bereich, in dem sich Menschen sicher fühlen, weil ihnen kaum Ungemach droht. Das können kuschelige Sofaecken sein, altmodische Büros mit richtigen, verschließbaren Türen oder auch ein Posten mit klar abgesteckten Zuständigkeiten. Oder es kann der Bereich meiner Aufgaben und Kompetenzen sein, in dem ich mich sicher fühle, weil ich alles schon xmal gemacht habe und mir keiner mehr was vormachen kann. Überraschungen drohen woanders, aber garantiert nicht in der Komfortzone.

So weit, so klar. Allgemein gilt es als Tugend, wenn man sich aus dieser kuscheligen Komfortzone hinauswagt. Ganz schön mutig, sich in Situationen zu begeben, die nicht voraussehbar sind, sich auf Wagnisse einzulassen, die auch daneben gehen können, gel? Eine der wichtigsten Begründungen für die zum Teil großen Gehaltsabstände zwischen Personen ohne Führungs- oder wenigstens Projektverantwortung und denen mit liegt ja gerade darin, dass wir im Allgemeinen diese Tugend außerordentlich hoch schätzen. Hui, wie mutig, wenn sich wieder einer aus der Komfortzone wagt, sagen wir dann und applaudieren ihm wie einem edlen Ritter in Rüstung und mit Lanze beim Turnier. Früher nannte man solche Leute schonmal Leistungsträger. Jetzt nennt man sie, vielleicht etwas neutraler, einfach Leader und verspricht ihnen hohe Gehälter, tolle Entwicklungschancen und natürlich Boni, damit sie sich auch weiterhin aus ihrer Komfortzone wagen.

Was für eine schöne Geschichte von Tapferkeit und Heldenmut, die reich belohnt werden! Da kann man so richtig ins Schwärmen kommen…aber zumindest gedanklich möchte ich Sie heute auch einmal ein wenig aus der Komfortzone hinausführen. Und deshalb bleiben wir hier jetzt nicht stehen. Sondern setzen uns ungeschützt folgendem klugen Gedanken Erich Fromms aus:

Der heutige Mensch ist bereit, große Risiken auf sich zu nehmen beim Versuch, die Ziele zu erreichen, die angeblich „seine“ Ziele sind, aber er hat eine tiefe Angst davor, das Risiko und die Verantwortung auf sich zu nehmen, sich seine eigenen Ziele zu setzen. (S. 364)

Ja nanu, was meint Fromm denn damit? Müssen wir etwa die schöne feierliche Musik wieder abdrehen, den Jubel für die mutigen Emigranten der Komfortzone einstellen und nochmals etwas genauer nachdenken? Yes, I’m afraid so. Und zwar darum: Sicherlich ist es erst einmal lobenswert, Risiken auf sich zu nehmen, Wagnisse einzugehen. Die Frage ist allerdings, welcher Natur sind eigentlich jene Wagnisse, die man zum Beispiel in einer sicheren Angestelltenexistenz auf Weisung eingeht? Wie mutig ist es eigentlich, für einen Kunden ein bis drei Extrameilen zu laufen, wenn es genau das ist, was der und mein Chef von mir erwarten?

Hm. Wissen Sie was ich meine? Es gibt so einen Sport in der Arbeitswelt – und nicht nur dort – sich damit zu brüsten, dass man wieder einmal die Erwartungen übererfüllt und sich als erster dafür freiwillig gemeldet hat. Ganz schön mutig, nicht? Klar: Sicherlich mutiger als diejenigen, die nie weiter gehen, als die Erwartungen bis zum unvermeidlichen Soll zu erfüllen und sich nie im Leben für irgendetwas freiwillig melden würden. Aber was klingt eigentlich mehr nach dem Verlassen der Komfortzone: Sich zum dritten Mal melden, um ein prestigeträchtiges Projekt im unbekannten Ausland zu übernehmen – oder ein halbes Jahr auszusetzen, um den sterbenskranken Vater zu pflegen?

Oder um ein ganz anderes Beispiel zu nennen: Bei uns in Düsseldorf klettern die Müllwerker notfalls auch mal vom Bordstein in den Keller, um die Tonnen herauszuholen. Behände und in enormen Tempo angeln die jeden Morgen die stinkenden Dinger mit Tauen und Haken aus dem Untergrund, schaffen sie blitzschnell auf den Wagen und hetzen weiter. Wann operieren diese Leute eigentlich nicht außerhalb ihrer Komfortzone? Um von den prekär beschäftigten Turbopaketauslieferern dieser Zeit mal ganz zu schweigen…

Aber gut, viele werden hier noch nickend zustimmen und sagen: Ja, ja, Komfortzone, das heißt halt für jeden etwas anderes. Und es geht eben nicht immer gerecht zu in der Welt, das ändert ja nichts an der Richtigkeit der Forderung, mal etwas zu wagen und sich und anderen auch etwas zuzumuten. Jetzt haben wir allerdings gesehen: Zumutungen und damit auch der Mut in der Zumutung relativieren sich ziemlich, wenn sie von einer Autorität vorgegeben werden. Denn wieviel Wagemut steckt noch in dem Wagnis, das alle von mir erwarten und zu dessen Bewältigung ausschließlich Fähigkeiten von Nöten sind, die ich bereits besitze und nun nur noch auf einen neuen Gegenstand anwenden muss? Mutiger wäre dagegen ein Wagnis, das sozusagen ganz auf eigenem Mist gewachsen ist, das einer unabhängigen und freien Entscheidung entspringt:

Gegen das Gebot der Autorität handeln, eine Sünde begehen, ist in seinem positiven menschlichen Aspekt der erste Akt der Freiheit, d.h. die erste menschliche Tat. […] Der Akt des Ungehorsams als ein Akt der Freiheit ist der Anfang der Vernunft. (S. 237)

Genau, Herr Fromm, wobei wir hier ‚Sünde‘ und ‚Ungehorsam‘ einfach bildlich verstehen können und sollen. Aber wirklich raus aus der Komfortzone kommen wir halt erst, wenn wir auch mal das Unbequeme, ja gänzlich Unerwartete und vielleicht sogar Unerlaubte wagen. Aber auch das wissen ja nicht zuletzt viele Arbeitgeber und lecken sich gierig die Finger nach entrepreneurial characters und dergleichen, also Leuten, die auch einmal auf eigene Faust ohne Netz und doppelten Boden agieren und echte Risiken eingehen.

Echte Freiheit macht Angst

Nur: Warum gibt es eigentlich so wenige von denen? Hm. Könnte es vielleicht sein, dass es einem außerhalb der berühmten Komfortzone schnell so ungemütlich werden kann, dass man sich weit schwerwiegendere Probleme einhandelt als nur eine Erkältung und einen steifen Nacken, von dem kalten Wind, der da weht? Schließlich, haben wir gerade gesehen, geht es ja um nicht weniger, als das, was wir heute gerne als Selbstverständlichkeit betrachten, was es aber überhaupt nicht ist: Dass Menschen sich für eine Existenz als freie, selbstbestimmte Wesen entscheiden. Dass sie auch einmal entschieden gegen den Strom schwimmen, wo es ihnen richtig erscheint.

Dem steht aber ganz entschieden das entgegen, was Erich Fromm die Furcht vor der Freiheit nennt. Die kommt immer dann auf, wenn man den Schutz der Herde, die Geborgenheit in der Gemeinschaft aufgibt und sich auf den Weg macht, etwas Neues zu erkunden. Oder auch etwas Altes, was alle anderen achtlos haben liegen lassen. In solchen Momenten kann man sich ziemlich schnell ziemlich allein fühlen. Das passiert übrigens jedem mindestens einmal im Leben – in der Pubertät -, sagt Erich Fromm, wenn er sich zum ersten Mal anschickt, die Komfortzone Familie zu verlassen:

Ist man erst zu einem Individuum geworden, so ist man allein und steht der Welt mit allen ihren gefährlichen und überwältigenden Aspekten gegenüber. (S. 234)

Vielen von uns wird es dann schnell zu heiß, sagt Fromm. Wir passen uns lieber an. Sagen, was man sagt, und machen, was man macht. Was von uns erwartet wird:

Es kommen Impulse auf, die eigene Individualität aufzugeben und das Gefühl der Einsamkeit und Ohnmacht dadurch zu überwinden, daß man völlig in der Außenwelt aufgeht. (S. 234)

Nur zurück in die Komfortzone. Brr! Weil Freiheit und Eigenständigkeit eben nicht immer nur Spaß machen, sondern sich auch sehr bedrohlich anfühlen können. Und dafür gibt es neben grundsätzlichen, existenziellen Ängsten vor dem Verlassen- und Alleinsein, vor der vollkommenen Bedeutungslosigkeit und Auslöschung auch ganz handfeste Gründe! Fangen wir mal mit den trivialen, den ökonomischen an. Das ist jetzt nicht so mein Lieblingsthema, aber auf Anfrage und gegen gute Bezahlung singe ich Ihnen gerne Lieder davon, wie das ist, wenn man immer auf Themen setzt, die alle irgendwie total wichtig finden, aber nicht unmittelbar rentabel. Man findet sich dann jedenfalls nicht gerade im Zentrum eines florierenden Wirtschaftslebens wieder.

Aber nicht nur das: Wenn man sich für Dinge interessiert, begeistert und engagiert, von denen andere wenig wissen oder auch gar nichts wissen wollen, dann kann man auch sehr schnell sehr einsam werden. Und dazu muss man nicht einmal Ambitionen haben, gänzlich jenseits ausgetretener Pfade die Welt zu verändern, sondern nur zum falschen Zeitpunkt auf den falschen Zug aufspringen. Zum Beispiel, indem man auf Fehler hinweist, von denen gerade niemand etwas wissen will. Oder eine kleine, womöglich hochprofitable Verbesserung in einem Produktionsablauf vorschlagen, die dummerweise vom Vorgesetzten nicht verstanden wird. Usw. usf.

Und dieses Gefühl, einsam und verlassen im Regen zu stehen, das kann schon ohne jeden ökonomischen Druck ausreichen, einem das mit dem Verlassen der Komfortzone gründlich zu verleiden. Haben Sie sich z.B. schonmal gefragt, warum so viele auf Lebenszeit verbeamtete und in ihrer Arbeit per Gesetz freie ProfessorInnen statt mutige, innovative Forschung zu betreiben, immer nur den selben alten Käse im Kreis rühren? Weil Menschen ganz einfach soziale Wesen sind, und es nur graduelle Unterschiede darin gibt, wie lange wir es aushalten, wenn keiner zu uns steht:

Wir sahen, daß der Mensch diese Isolierung nicht ertragen kann; er ist als isoliertes Wesen der Außenwelt gegenüber völlig hilflos und daher voller Angst vor ihr. […] Deshalb überfallen ihn Zweifel an sich selbst, am Sinn des Lebens, und schließlich gibt es für ihn keinerlei Grundsätze mehr, nach denen er sich in seinem Handeln richten könnte. Hilflosigkeit und Zweifel lähmen sein Leben, und um weiterleben zu können, versucht er der Freiheit – der negativen Freiheit – zu entfliehen. (S. 367)

Das ist nebenbei bemerkt nur die Reaktion derjenigen, die wir nicht als psychisch krank (z.B. depressiv, suizidgefährdet etc.) einstufen, also der ’normalen‘ Menschen auf das Problem, das sich jedem stellt, wenn er merkt, dass frei zu sein und freie Entscheidungen zu treffen, leicht bedeuten kann, Schutz und Unterstüzung der menschlichen Gemeinschaft zumindest zeitweise zu verlieren und auf sich selbst gestellt zu sein. Eine ziemlich gesunde Reaktion, da erstmal wieder ins Glied zurückzutreten, mindestens einen guten Teil seiner hochtrabenden, aber wenig anschlussfähigen Pläne einzupacken und auf eine günstige Gelegenheit zu warten, bis man sich wieder aus der Deckung wagt, nicht wahr? Oder wer passt sonst solange auf uns auf? Erleuchtete und Fanatiker haben dafür einen Gott oder ein heiliges Prinzip. Aber der normale, (post)moderne Mensch?

Nicht, dass dieser sich nicht gelegentlich aus seiner Komfortzone herauswagen würde, sagt Fromm. Nur bekommt er es dabei nicht selten mit der Angst zu tun:

Er wird unabhängiger, er verläßt sich mehr auf sich selbst und wird kritischer; er wird aber andererseits auch isolierter, einsamer und stärker von Angst erfüllt. (S. 278)

Schafft mehr Komfortzonen!

Vielleicht geht es Ihnen ja auch so. Ich jedenfalls betrachte allmählich die viel gescholtene Komfortzone mit etwas anderen Augen. Ich bin wirklich kein Freund von Haben-wir-doch-schon-immer-so-gemacht-warum-sollen-wir-etwas-neues-ausprobieren und ähnlichem Mief. Aber ein Ort, an dem man sich gerne aufhält, weil er eine Atmosphäre von Wärme und Vertrautheit, von Sicherheit und Geborgenheit verbreitet, weil man dort in Ruhe und ohne Angst leben und arbeiten kann, das klingt doch erstmal gut, oder?

Aber ich möchte es anders formulieren, damit diejenigen, die immer so eifrig gegen die Komfortzone anreden, sich jetzt nicht vor den Kopf gestoßen fühlen. Denn ich finde, auch die haben irgendwo recht. Oder waschküchenphilosophisch gesprochen: Die Wahrheit liegt (fast) immer in der Mitte. Es ist ja auf der einen Seite sehr, sehr wünschenswert, dass wir alle miteinander immer häufiger den Mut finden, Neues zu wagen. Ob auf eigene Faust, oder gemeinsam, ob im kleinen oder im großen Rahmen. Und natürlich müssen wir dabei an unsere Grenzen gehen und diese überschreiten. Sonst kommen wir nicht aus dem Quark. Ob als Privatperson, als Unternehmen oder als Gesellschaft.

ABER: Wenn der Quark, aus dem ich nicht rauskomme, sich anfühlt wie ein Schützengraben auf einem Schlachtfeld – sprich, wenn meine Familie, mein Job, mein Eigenheim, mein Titel oder mein Renommé sich anfühlen wie die letzte, noch halbwegs komfortable Bastion vor dem Verderben, dann werde ich doch einen Teufel tun, die aufs Spiel zu setzen, für die vage Aussicht späterer Würdigung oder gar des Wohlergehens anderer. Kein Mensch verlässt seine Komfortzone, wenn das, was außerhalb von ihr liegt, aussieht wie ein lebensgefährlicher Hindernisparcours.

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Finden Sie, dass das übertrieben klingt? Nun ja, wo sind denn die positiven Attraktoren, die guten Gründe ein Wagnis einzugehen, in einer Welt, der es sowohl an struktureller Finanzierung nicht direkt marktfähiger Innovationen (z.B. durch Grundeinkommen oder so neumodisches Zeug), als auch an kurzfristiger und wirksamer Unterstützung skalierbarer Gründungsideen (durch Wagniskapital etc.) mangelt? Auf einem Arbeitsmarkt, der Konformität in höchstem Maße honoriert, von der Norm abweichende Interessen und Qualifikationen aber zumeist sanktioniert? In einer Organisations- und Führungskultur, die gerade erst angefangen hat, den Fehler nicht als lebenslanges Stigma dessen zu betrachten, auf den er mit viel Mühe zurückzuführen ist, sondern als Keim der Verbesserung?

Statt ängstlichen Menschen zuzubrüllen, dass sie jetzt endlich, verdammt nochmal ihre Komfortzone verlassen sollen, täten wir vielleicht besser daran, in unseren Unternehmen und Organisationen, in Wirtschaft und Gesellschaft diejenigen Aspekte von Komfortzonen zu verwirklichen, die eigentlich keiner schlecht finden kann. Was spricht gegen ein System der sozialen Sicherung, das ohne blöde Fragen und Vorwürfe den Hilfsbedürftigen auffängt und mit genauso großer Selbstverständlichkeit und Verlässlichkeit dazu ermutigt und auch wirklich befähigt, das eigene Leben zu gestalten, statt nur Almosen zu empfangen? Was spricht gegen informationelle Transparenz und einen Kommunikationsstil der Wahrhaftigkeit (Augenhöhe und so!) in allen Organisationen der Gesellschaft, der signalisiert: Wir fahren Dir nicht über den Mund, wenn Du mal anderer Ansicht bist als wir! Und überhaupt: Wie bunt und kreativ wäre eine Welt ohne diesen albernen Professionalitätsfetisch, der als brauch- und verwertbar nur gelten lässt, was grau und stromlinienförmig und in einem ziemlich sozialdarwinistisch anmutenden Sinne ‚fit‘ ist!

Ach, wenn ich mir vor meinem inneren Auge so eine Welt vorstelle, da möchte ich keine Sekunde zögern und sofort meine ohnehin etwas in die Jahre gekommene und manchmal durchaus etwas zugige Komfortzone verlassen – weil ich da draußen alles wiederfinden würde, was ich an ihr mag. Und noch viel mehr: Menschen, die es Dir nicht übel nehmen, wenn Du versuchst Du selbst zu sein bzw. zu werden. Organisationen, die keine Angst vor neuen Ideen haben, sondern all ihre Mitglieder darin bestärken, solche zu entwickeln. Kurz: Eine Gesellschaft, die sich vor Menschlichkeit nicht fürchtet, aus Angst, die könnte ihr auf Dauer das Geschäft verderben.

Um hier mal auf den Anfang zurückzukommen und zum Ende ein wenig politisch zu werden: Die 1990er Jahre waren das Jahrzehnt, in dem von Politik und Wirtschaft der große Plan zur endgültigen Abschaffung der Komfortzone mit großem Furor vorangetrieben wurde. Vielleicht nicht zuletzt, weil man sich durchaus ehrlich und mit guten Absichten im Gepäck davon etwas versprach: Wenn alle mehr wagen, gewinnt die gesamte Gesellschaft. Und das ist ja auch eines der Versprechen, das heute die mehr oder weniger neuen, partizipativen Organisationsformen unter dem Stichwort NewWork einlösen sollen: Je mehr Verantwortung der einzelne übernimmt, desto besser läuft es im Endeffekt für alle.

Dabei sollte man aber eben eines niemals vergessen: Zuviel Freiheit und damit Verantwortung kann Angst machen. Und diese Angst werden Menschen nicht schon deshalb überwinden, weil ihnen jemand kluge Predigten hält. Sondern viel eher, wenn sie spüren, dass der Boden außerhalb ihrer Komfortzone nicht aus Treibsand besteht, sondern trägt und hält. Dafür aber müssen wir durchaus so etwas wie kollektive Komfortzonen jenseits der rein persönlichen, individuellen schaffen. Natürlich nicht nur Sofalandschaften zum Ausruhen. Schon klar, liebe Freunde der Leistung.

Aber wer will, dass jemand einen Seiltanz aufführt, der muss ihm auch ein Netz aufspannen.

Auch mal richtig tief ins Buch schauen? Für diesen Artikel gelesen:
Fromm, Erich: Die Furcht vor der Freiheit, in: Erich Fromm: Gesamtausgabe, Band 1, Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1999 (Einzelausgaben des hier besprochenen Werks sind im Buchhandel und in Bibliotheken erhältlich.)

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